JVA Essen und JVA Gelsenkirchen, seit 2002

Seit 2002 arbeite ich in der JVA Gelsenkirchen, seit 2015 auch in der JVA Essen. Es geht mir darum inhaftierten Männern eine besondere Freiheit im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten im Gefängnis anzubieten. Die Freiheit der Kreativität, die sich auf Papier, der Wand oder auch im Kopf ausleben lässt.

Januar 2016 – Blog von Dr. Claudia Posca

Kunst im Knast

Gelsenkirchen

Beklemmend, dieses Erlebnis. Ich war im Bau: JVA Gelsenkirchen, Aldenhofstr. 99-101, eine Pressekonferenz im Dezember 1998. Der Anlass: die Fertigstellung des zwei Jahre zuvor begonnenen, auf 104.000 Quadratmeter erbauten Gefängnisses mit rund 550 Plätzen im geschlossenen Vollzug.

Für Kunst im Knast war ich unterwegs, ein Thema, das die Gesellschaft spaltet. Ästhetik für Strafgefangene? Wozu? Wer hinter den 5,50 Meter hohen Betonmauern landet, hat doch  selbst Schuld ist landläufige Meinung.

Viel aber hat sich geändert. Haft als Strafmaßnahme ist nicht mehr alleiniges Ziel. Resozialisierung wird angepeilt. § 37 StVollzG sieht vor: „Arbeit, arbeitstherapeutische Beschäftigung, Ausbildung und Weiterbildung dienen insbesondere dem Ziel, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern.“

Kunst kann dabei helfen. Eine multifunktionale Haft-Architektur auch. Damals wurden der Öffentlichkeit die beiden, vom Düsseldorfer Künstler Horst Gläsker gestalteten Andachtsräume der JVA Gelsenkirchen (einer für Männereiner für Frauen) als von den Häftlingen positiv angenommene Orte der Einkehr vorgestellt: Kunst-im-Bau statt der bekannteren Kunst-am-Bau „in einem so gesehen schönen Gefängnis, falls es das überhaupt gibt“ schrieb ich in der Neuen Rhein Ruhr Zeitung.

Jetzt, fast zwanzig Jahre später, holt die Essener Künstlerin Anne Berlit Knast-Erinnerungen zurück. Bei unserem Treffen im Hinterhof-Atelier, Ruschenstraße 36 in Essen-Bredeney erzählt mir die 1959 geborene Baden-Württembergerin, Meisterschülerin von David Rabinowitch und bekannt für ihre installativ-performative Kunst, wie, warum und wieso sie sich seit 2002 in der JVA Gelsenkirchen und seit drei Jahren in der JVA Essen, wöchentlich, immer dienstags, für jeweils zwei Stunden engagiert. „Die meisten Inhaftierten wollen lernen, die Wirklichkeit abzubilden, Landschaft, Tiere, Portrait. Ein für alle vorgegebenes Thema stelle ich nicht. Einer möchte Frau und Kind zeichnen, ein anderer Angst oder Wut farbig ausdrücken.“

Als Anne Berlit einmal ein Anatomiemodell mitbringen wollte, „gab’s eine Riesenaufregung: Der Schädel darf nicht mit rein. Aber genau das ist natürlich etwas, was die Häftlinge interessiert.“

Dabei wundert sie sich manchmal selbst darüber, „wie so ein Bulli von Mann von Anfang an sensibel Farben anrührt. Klar, dass ich zunächst, als ich den Malkurs von meinem Künstlerkollegen Jürgen Paas übernommen hatte, etwas unsicher war. Aber ich habe direkt gesagt: Entweder ich fühle mich wohl bei euch, dann komme ich wieder. Oder ich fühle mich unwohl, dann kann ich nicht kommen, weil ich euch dann auch nichts vermitteln kann.“

Anne Berlits Stärke ist ihre Offenheit. Und ihr pädagogischer Duktus. „Man darf sich nicht verstellen, man muss authentisch sein. Ich habe da keine Ängste“, sagt die zierliche Frau. „Auf Augenhöhe den Inhaftierten begegnen, sie abholen, wo sie stehen, ist mir wichtig.“

Anne Berlit hat an der PH Heidelberg Kunst, Englisch, Deutsch auf Lehramt studiert, danach freie Kunst an der Düsseldorfer Akademie. Und sie hat Krankenschwester gelernt, zudem in einem anthroposophischen Hospital eine Mal-Therapeutenausbildung gemacht. „Auch in meiner Kunst arbeite ich partizipativ und raumbezogen. Der Malkurs in der JVA ist da keine Ausnahme. Es gefällt mir, Räume zu schaffen, um jemanden an dem, was ich kann, teilhaben zu lassen.“

Wo andere zumachen, ist Anne Berlit offen. Für Drogenabhängige, Dealer, Diebe, die meisten zwischen 20 und 40 Jahre alt, aus unterschiedlichsten Nationen und sozialen Milieus, „der Bildungsstand ist höchst unterschiedlich. Mancher kann weder lesen noch schreiben, viele sitzen oft mehrere Jahre ein. Im Malkurs aber gilt es, jeden so anzunehmen, dass er etwas für sich mitnimmt, sich entwickelt.“ Trotz Vertrauensverhältnis aber lässt sich Anne Berlit nicht vereinnahmen.

Was die sanft konsequente Frau wöchentlich leistet, ist reinste Integrationsarbeit, so etwas wie eine praktische Nahbeziehung von Mensch zu Mensch, kommunikativ, sozial, flexibel für individuelle Förderung. Der Weg ist das Ziel, mit künstlerischer Praxis baut sie Brücken. Streng nach Curriculum zu arbeiten, hält Anne Berlit für falsch. Es ist ihre feine Art effektiver Nicht-Linien-Kompetenz, die das Projekt Kunst-im-Knast so erfolgreich macht. Obwohl die Herausforderungen hoch sind. Aber: „Das Arbeiten macht Schwieriges leicht. Beim Malen sind alle gleich.“

Für die Inhaftierten bedeutet Anne Berlits Zugewandtheit einen „halben Quadratmeter Freiheit“, wie eine im letzten Jahr vom Verein „Art and Prison“ im Liechtensteinischen Landesmuseum initiierte Ausstellung mit Kunst aus dem Knast hieß. Für sehr Talentierte bedeutet es zudem die Möglichkeit, eigene oder im Auftrag von Mithäftlingen gemalte Bilder gegen Kaffee oder Tabak zu tauschen. Kunst ist auch im Knast eine harte Währung. Anne Berlit zeigt mir Arbeiten ihrer Schützlinge. Die sind oft so gut gemacht, dass ich den Hut ziehe vor einer Künstlerin, die Enormes leistet. Erst kürzlich noch fragte die JVA Werl für Malkurse an. Und sogar Familien- und Arbeitstherapien hat Anne Berlit schon gemanagt – ruhig und besonnen. So jedenfalls stelle ich mir ihre therapeutischen Sitzungen vor. Weil Anne Berlit so ist. Sie hat diese besonders ermutigende Gelassenheit. Das schafft Vertrauen.

Ich erzähle ihr von meinen Gänsehauthärchen damals am JVA-Eingang, Ausweiskontrolle, Taschenabgabe, ein elektronisches Summen, die erste Tür öffnet: Bitte durchgehen. Die jetzt hinter einem liegende Tür schließt, die vor einem liegende Tür ist geschlossen. Es geht weiter bis zu dieser. Wieder sirrt es, klack, die Tür öffnet, drei, vier Schritte, dann erneutes Summen, klack, die Tür schließt. Wie sich Raubkatzen im Käfig fühlen, wusste ich ab da für ewig.

Anne Berlit schmunzelt, kennt das Gefühl einer „sehr befremdlichen Atmosphäre. Unangenehm ist’s auch, wenn mir Beamtinnen in die Hosentaschen fassen. Aber das gehört dazu. Vorschrift.“

Einfluss darauf, wer zur Kunststunde kommt, hat sie nicht. Nur wie viele teilnehmen, kann sie bestimmen. „Mehr als zehn sollten es nicht sein.“ Und die, die den Sprung von der Warteliste schaffen, gelten nicht als gefährlich. „Fällt dann doch einmal etwas vor, oder fehlt jemand grundlos mehrere Male, ist Schluss mit dem Privileg Kunst.“

Die Welt drinnen ist eng. Zehn Quadratmeter klein sind die Zellen, man spricht lieber von Einzelhafträumen. Sicher ist, dass der Knast Träume frisst. Was bleibt, ist Zeit. Viel Zeit in der Endlosschleife des Haftalltags. Die 120 Minuten Kunst mit Anne Berlit werden ersehnt: Auszeit. Mit Ausblick. „Es ist kaum zu glauben, aber im Laufe der Jahre ist auch bei mir das besondere Gefühl dieser Freiheit angekommen, das sich in diesen jeweils zwei Wochenstunden im geschlossenen Raum entwickelt.“ Sagt eine starke Frau. Und eine engagierte Künstlerin.

In diesem oder nächstes Jahr will Anne Berlit ein Buch zur Kunst im Knast rausbringen. Es wird gut werden.